(aus: Hanoi, meine Liebe.
Vietnamesische Lebenslinien II)
Operation Bánh Chung - Alle werden da sein
Ich gehe barfuß über den geschrubbten Hof, dessen Platten von der Sonne noch warm sind. Der Sternfruchtbaum wölbt schützend sein Blätterdach über mich, in den Rabatten leuchten die frisch gepflanzten Gerbera. Blütenpollen schweben in der Luft. Wenn die erdrückend kahlen, grauen Häuserwände nicht wären, die das kleine Areal wie eine Gefängnismauer umschließen, könnte ich mich an Mutter Les Familienfestung gewöhnen. Zumal das Hoftor heute, am letzten Abend des Mondjahres, einladend offen steht.
Wir feiern einen frühlingshaften, für europäische Verhältnisse sommerlichen Jahreswechsel mit himmlischen Erfrischungseinlagen. Kaum ist die Festtafel im Freien aufgestellt und das Tischtuch aufgelegt, setzt warmer Nieselregen ein. Kurzerhand rücken wir den Tisch unter das Vordach des Hauseingangs, so sitzen wenigstens die Frauen im Trocknen. Ein Halogenstrahler wirft sein gleißendes Licht in die Runde und sorgt für Schattentheater.
Als der 2000-Watt-Wok angeschlossen wird, gibt es einen dumpfen Knall, und alles versinkt in Finsternis.
„Minututschku“, höre ich den Moskauer Bruder sagen.
Hau lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, tappt ins Haus und kehrt mit einer Taschenlampe zurück. Es ist nur die Sicherung. Sie wird notdürftig mit einem Stück Draht überbrückt.
Nach und nach finden sich die übrigen Familienmitglieder ein, und jeder bringt noch etwas mit. Hang hat eine Flasche französischen Rotwein dabei. Hau spendiert einen Karton Saigoner Büchsenbier. Ich stelle zwei Flaschen Rotkäppchensekt auf den Tisch. Der Regen hat wieder aufgehört. Aus dem Fenster des Ha-Hauses wird der Kessel mit der Suppe und in einer Schüssel der unzerteilt gekochte Hahn gereicht.
Wir müssen auf Hai warten, die noch auf dem Weg zu uns ist. Müde und abgehetzt, schiebt sie ihr Moped durchs Tor. Ihre lockere Frisur hat unterm Helm gelitten. Ich registriere die dunklen Augenringe, doch um ihren Mund spielt ein zufriedenes Lächeln.
„Ist die Doktorarbeit fertig?“
„Fertig geschrieben, ja.“
Weil die diplomierte Bankerin ihre Dissertation unbedingt noch im alten Jahr abgeben wollte, hat sie die Nacht durchgemacht. Morgens gegen fünf, erzählt Hai, ging ihr beim Ausdrucken der Seiten die Tinte aus. Sie musste telefonisch einen ihrer Studenten wecken, der eine frische Patrone brachte. Inzwischen sei das Manuskript beim Professor, der es über die Feiertage lesen wolle. Wenn alles gut geht, wird Hai im neuen Jahr als Dritte der Nguyen-Familie den Doktortitel erwerben, nach ihren Brüdern Huong und Hau, die in Jena beziehungsweise in Moskau promoviert haben.
„Auf Dr. Nguyen Van Hong Hai“, sage ich und hebe meinen mit Wein gefüllten Becher.
„Not Van! Thi Hong Hai“, werde ich unter schallendem Gelächter korrigiert. „I’m a woman!“
Wir stoßen mit unseren Pappbechern auf die künftige Doktorfrau an.
Die Tetfeier ist eröffnet. Der Malerbruder hat traditionell gekocht. Obwohl ich hungrig bin, schaffe ich von seiner viel gelobten heißen, sämigen Suppe, in der fette Fleischbrocken schwimmen, nur ein paar Löffel. Ähnlich ergeht es mir mit dem Hahn, dessen Fleisch zäh und zwischen den Sehnen noch roh ist. „An di!“ ermuntert mich die kleine Kim und nagt mit großem Appetit an ihrer Hähnchenkralle. Hau nimmt sich den kammgeschmückten Kopf vor. Schon beim Zuschauen schüttelt es mich. Verwöhnter Wessi! Bisher hat es dir hier immer gemundet, meistens viel zu gut...
Es tröstet mich, dass auch Ngoc, die ihr Magenleiden pünktlich zum Fest auskuriert hat, Has Suppe verschmäht. Um nicht unhöflich zu erscheinen, nehme ich mir eine große Portion von dem rötlichen Klebreis, koste die dicken Bohnen und warte, bis der Karpfen im Wok gar ist. Der Fisch schmeckt vorzüglich, ist aber voller Gräten.
Ein großes lung tung herrscht bei den Getränken. Wir schütten erst Bia Hanoi, dann den Bordeaux von Hang in uns hinein. Als Bier und Rotwein alle sind, fährt Hau seine russische Troika auf: ein kleines Holzfass auf einem Schlitten, gezogen von drei hölzernen Pferden. Zum Glück enthält das Zweiliterfass keinen Wodka, sondern italienischen Tischwein.
„Auf Vietnam! Auf die Familie!“
Mir wird ganz feierlich zumute: Muss ich jetzt als Huongs Stellvertreter eine Rede halten?
Ich schaue in das runzlige Gesicht der Familienältesten, die an der Stirnseite der Tafel neben dem Mandarinbäumchen thront. Mutter Le hat sich in Schale geworfen, nur ihre braune Adidas-Wollmütze will nicht zu der weißen Bluse und dem kostbaren Halsschmuck passen. Wie viele Jahreswechsel mag sie hier, auf diesem Hof, schon erlebt haben, in Kriegs- und in Friedenszeiten? Als nicht mehr ganz junge Frau ist sie mit Huongs Vater von Zentralvietnam nach Hanoi gekommen. Sie hat Ho Chi Minhs Schwester persönlich gekannt. Während des Krieges hat sie ihre Kinder zu fremden Bauern aufs Land geschickt und im Erdloch neben der Hütte den amerikanischen Bombenangriffen getrotzt… Erinnerungen, die mit jedem Jahr verblassen und eines Tages verlöschen werden. Am anderen Tafelende sitzen unter den Pfirsichblütenknospen die zwischen 1988 und 1998 geborenen, nach neuestem Schick gekleideten Enkel.
Zwei Stunden vor Mitternacht klingelt das Festnetztelefon. Huong meldet sich aus Berlin, um uns ein gesundes neues Jahr zu wünschen. Er spricht zuerst mit seiner Mutter. Dann wandert der Hörer
von einem Ohr zum nächsten und langt schließlich bei mir an. „Hallo!“ höre ich seine leicht kehlige Stimme. „Was machst du? Lässt du dich auch richtig verwöhnen?“ Er rufe deshalb so früh an, weil
nachher, wenn alle Auslandsvietnamesen in die Heimat telefonieren, wieder das Telefonnetz zusammenbricht. Da die Verbindung über eine Billigvorwahl im Internet geht, hallen unsere Sätze nach, und
ich muss nach jeder Erwiderung eine Sekunde warten, damit wir uns nicht ins Wort fallen. Wo er in Deutschland das Tetfest feiert, will ich wissen.
Er sei mit seiner Frau zu Hause und habe vietnamesisch gekocht. Punkt zwölf, also sechs Uhr Mitteleuropäischer Zeit, werden sie mit Thao Ly, ihrem Dschungelkind, anstoßen. Danach will
Huong in Berlin-Lichtenberg eine vietnamesische Familie besuchen.
„Als erster Gast im neuen Jahr“, vermute ich.
„Genau. Sie laden mich jedes Jahr ein, offenbar bringe ich ihnen Glück.“ „Hoffentlich hast du auch an druckfrische Banknoten gedacht.“
Huong lacht. „Du weißt ja gut Bescheid.“
Leider habe er es nicht mehr rechtzeitig zur Bank geschafft. „Aber das regeln wir anders. Tanni hat gebrauchte Euroscheine für mich aufgebügelt. Ja, mit dem Bügeleisen. Die Banknoten müssen nicht neu sein. Es genügt, wenn sie glatt sind und wie neu aussehen... Und wie geht es euch?“
„Uns geht’s prima. Gutes Essen, viel Bia Hanoi, keine Zwischenfälle“, erwidere ich. „Ach doch, deine Mutter hat vorhin den kleinen Duy versohlt, weil er in ihrem Schuppen war. Phúc Dan hatte ihn darin eingesperrt, doch der war clever und ist rechtzeitig abgehauen.“
„Meine Mutter erwischt immer den Falschen“, seufzt Huong. Früher habe er für die Streiche seiner kleinen Geschwister büßen müssen.
„Es war nur Spaß“, beruhige ich ihn. „Allerdings steht Phúc Dan noch auf dem Balkon und traut sich nicht runter.“
„Trotzdem, ich verstehe nicht, warum meine Mutter immer gleich vor Wut in die Luft gehen muss! Es sind doch ihre Enkelkinder... Na ja. Also dann, guten Rutsch! Und komm gesund zurück!“
„Aber ja“, sage ich, „grüß Tanni von mir. Und auf Wiedersehen im Jahr des Schweins.“
Kaum habe ich aufgelegt, hält mir Hau eine schöne, sechseckig geformte Flasche unter die Nase.
„Chotschesch?“
Ich rieche Pflaumenschnaps. Die Flasche Slivowitz hat ihm eine Delegation aus Prag geschenkt. Wir trinken den tschechischen Pflaumenschnaps aus schweren russischen Kristallgläsern, und der Moskauer Bruder erzählt Anekdoten von seinen Vortragsreisen, die ihn durchs ganze Land führen: Saigon, Da Nang, Than Hoa, Ho-Chi-Minh-City… Tagungen, Konferenzen, Schulungen, Meetings am laufenden Band, und Ngoc mit Söhnchen Phúc Dan allein zu Haus.
„Nje choroscho“, gibt Hau mit gerunzelter Stirn zu und schenkt nach.
Der Sonnyboy der Familie ist fülliger und im Gesicht ein wenig schwammig geworden. Das Kaderleben hinterlässt seine Spuren. Vom anderen Hofende schallt fröhliches Gelächter herüber. Die Jugend trinkt Fanta und feiert unter sich.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es an der Zeit ist, die präparierten roten Briefumschläge zu holen. Auf dem Weg in mein Zimmer höre ich im Treppenhaus ein vertrautes Schnalzen. Mein Gecko wieselt an der Wand entlang, verharrt schräg über dem Absatz und starrt mich an. Der kleine, gesprenkelte Kletterkünstler kennt keine Furcht, wie ein Hündchen folgt er mir durchs Haus. Ich steige die letzten Stufen hinauf. „Prosit Neujahr“, flüstere ich und wehre mich gegen den Gedanken, dass es Lan sein könnte, die sich für meinen Besuch am Grab bedanken will. Alle würden heute hier sein, hatte Hai verkündet. Ich schüttele mich. Ist es der Alkohol, der mir zu Kopf steigt, oder benebelt der Weihrauch, der schon den ganzen Tag dem Altar in der Dachkammer entströmt, mein Gehirn?
Wieder im Hof, verteile ich die Neujahrsgaben an die Kinder und bin perplex, als auch ich ein Geschenk bekomme – von Mutter Le! In dem Umschlag stecken zwei Hunderttausend-Dong-Scheine. Ich verbeuge mich ehrerbietig, und Hai knufft mich in die Seite. „You must give her a present back“, flüstert sie.
Ich eile nochmals auf mein Zimmer. Als wir mit dem Sekt anstoßen, ist auch Phúc Dan mit von der Partie. Der Hasenfuß hat die Fluchtburg verlassen und wedelt glücklich mit seinen Euro-Scheinen. Ich gehe mit dem Becher in der Hand um den Tisch herum. Wir wünschen einander Glück, Gesundheit und ein langes Leben.
Wieso denn zum Tetfest nicht gesungen wird, frage ich. Alle schauen mich an.
„Ja“, sage ich, „singt ihr etwa nur, wenn ihr mit euren Halbgeschwistern im Süden zusammen seid?“
Zögernd hebt Ha zu einer Volksweise an, in die alle, selbst die Jüngsten, einstimmen. Die anfängliche Verlegenheit löst sich in Luft auf, plötzlich hat jeder ein Lieblingslied parat.
Kim trägt kichernd ein vietnamesisches Pionierlied vor. Ngoc und Hang singen „Jingle Bells“, Phúc Dan schmettert einen Popsong.
Als die Stimmung ihrem Höhepunkt zustrebt, tritt plötzlich der kleine Duy in Aktion. Zunächst imitiert der Neunjährige mit Hau eine bekannte Fernsehshow. Dann beginnen die beiden wie echte Volkssänger zu improvisieren. „Meine Oma verkauft den Nachbarn Zeitschriften und Kondome“, rappt Duy und wiegt sich dazu im Rhythmus, „und du, Onkel, was tust du?“
Beifall und Gelächter. Hau reagiert wortgewandt, muss sich aber sogleich der nächsten Attacke stellen: „He, Onkelchen, du fährst die teuersten Motorroller der Marke Yamara, aber kannst du, aber kannst du, aber kannst du überhaupt auf einem Drahtesel reiten?“ Jetzt schüttelt sich sogar die Großmutter vor Lachen. Von der Familie angestachelt, steigert sich Duy immer mehr in seine Rolle hinein; er sprüht vor Eifer, seine Ohren glühen, und der Verlust der Mutter scheint für Augenblicke vergessen. „In der Nacht schließt meine Oma bei uns alle Hof-, Haus- und Kühlschranktüren ab“, rappt Duy. „Damit wir ruhig schlafen können, lässt sie den schwarzen, scharfen Hund heraus. Und du, Onkel, du-du-du, he, Onkelchen! Du schnarchst dazu!“
Johlen, Schenkelklatschen und kräftiges Getrampel. Der Onkel hebt resignierend die Hände und gibt sich seinem Neffen geschlagen.
Es ist gleich elf. Hau versucht, die Troika mit zwei Weinflaschen neu zu betanken. Die leicht beschwipsten Schwestern rüsten zur Abfahrt, wollen pünktlich am Hausaltar sein. Hai setzt ihren Mopedhelm auf und nimmt mich beiseite, sie hat ihren Vorsatz geändert. Wenn ich nicht zu müde sei, könne ich mit den Kindern nachkommen.
„Das bringt doch Unglück“, werfe ich ein. „Denk an dein Horoskop!“
Die Zauberin lächelt. Dies habe sie mit ihren Göttern geklärt. Allerdings müsste ich mich sputen, um noch vor Mitternacht einzutreffen. Dann sei ich ja nicht der erste Gast im neuen, sondern der letzte Gast im alten Jahr.
„Gast oder Geist?“
Als Gast wär ich ihr lieber.