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(Aus: Hanoi - Berlin - Nha Trang. VietnamesischeLebenslinien)

 
Die südvietnamesische Küstenstadt Nha Trang, aus der Huongs Vater stammt. Fotos: Frank Quilitzsch
Die südvietnamesische Küstenstadt Nha Trang, aus der Huongs Vater stammt. Fotos: Frank Quilitzsch

 

 

Besuch beim blinden Bruder

 

Huong stammt aus Hanoi, wächst dort bei seiner Mutter und seinem Stiefvater auf. Dieser hat durch sein Kriegsschicksal zwei Familien, eine in Nordvietnam und eine im Süden. Nach dem Krieg wird Huong in die DDR zum Studium geschickt. Seither verbindet ihn eine enge Freundschaft mit dem Autor. 1997 reisten sie zusammen nach Vietnam. Das Buch erzählt von der abenteuerlichen Reise in das heute noch unter der Spaltung und den Kriegsfolgen leidende Land, mit Kommunismus im Norden und amerikanischem Erbe im Süden. Der Autor lebte mehrere Wochen im Kreis der Familie und beschreibt den Alltag aus intimer Sicht. Im Wechsel mit Kapiteln über Huongs Vater und sein eigenes Leben entsteht so ein lebendiger Reportageroman aus dem heutigen Vietnam vor dem Hintergrund der zwei inzwischen miteinander verbundenen Großfamilien.

Nach einstündiger Fahrt, zuletzt über schmale Dämme und holprige Feldwege, stoppt der Bus. Wir steigen auf einer Böschung aus. Unten, wo sich das braune Band des Flusses windet, grast eine Wasserbüffelherde. Eine Büffelmutter hat mit ihrem Jungen in den Fluten Ab­küh­lung gesucht, man sieht nur die unterschiedlich großen Köpfe. Hinter dem Fluß steht wie eine undurchdringliche, dun­kel­grüne Wand der Dschun­gel.

Wir sind am Ende der Welt. Von hier aus ge­langt man nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad ins Dorf. Während der Vater aus dem Bus ge­hoben wird, steige ich die Böschung hinunter, um die Büffel zu fotogra­fie­ren. Dabei komme ich offenbar dem Jungtier zu nahe. Schnaubend steigt die Büffelmutter aus dem Wasser und glotzt mich drohend an. Mit ei­nem langgezogenen Laut alar­miert sie die Herde, die plötzlich wie auf Kommando gegen mich vorrückt. Mir bleibt nur die Flucht.

Eilig klettere ich den Steilhang wieder nach oben, wo sich die Zuschauer vor Lachen biegen.

Wolltest Du dem Maler Cuong Konkurrenz machen? spottet Huong, dem ich mein kleines Büffelgemälde gezeigt habe.

Noch vor Aufregung zitternd, klopfe ich mir den Sand von den Knien und schultere meine Fo­to­tasche. Die Kinder fassen mich bei den Händen und führen mich zur Hütte des Onkels.

 

Sung Anh, genannt der blinde Bruder, kommt uns die letzten Schritte ent­gegen - bar­fuß, mit nacktem, gleichmäßig gebräun­tem Oberkörper und buntgestreiften Shorts. Der Zweiundfünfzig­jährige ist sehr ma­ge­r; mit seiner starken Brille und den langen, glatten Haaren er­innert er an ei­nen Hippie, der in Vietnams Wäldern überdau­ert hat.

Vor vierzehn Jahren hat Huong vergeblich versucht, den Halbbruder nach Nha Trang zurückzuholen. Seitdem haben auch Sung Anh und der Vater nicht mehr miteinander gesprochen. Huong ist es gelungen, die beiden wieder zusammenzubringen, wenigstens für den heutigen Tag.

Aufgewühlt durch unseren Besuch, tappt Sung Anh zwischen Hütte und Garten hin und her. Für einen Moment ver­weilt er am Liegestuhl des unter dem Mangobaum ausruhenden Vaters. Die beiden wechseln ein paar Worte. Schon macht Sung Anh wieder kehrt, um bei den Frauen nach dem Rech­ten zu sehen.

Lien heizt den Herd an. Bich und Ly sind mit Eimern zum Dorfbrunnen unterwegs. Inzwischen reinigt Dinh das Gemüse und zerteilt den Tinten­fisch. Sung Anh braucht ihr nicht zu zeigen, wo die Töpfe stehen. Sie kennt sich in der Hütte bestens aus. Dinh ist Sung Anhs Frau. Aber sie lebt schon lange nicht mehr hier bei ihrem Mann. Vor Jahren floh sie aus der Wildnis unter das Dach des Schwiegervaters in Nha Trang.

An­laß für die überstürzte Flucht sollen Spielschulden gewesen sein. Dinh hatte sich wohl um Kopf und Kragen gespielt. Die Lage wurde so brenz­lig, daß sie für einige Zeit in Saigon untertauchen mußte. Vielleicht führt sie deshalb jetzt mit Lien ein Aschenputteldasein in Nha Trang. Mit ihrem Mann redet Dinh kein Wort. Die beiden tun so, als wären sie Luft füreinander.

Nach ziellosem Hin und Her steht Sung Anh wieder vor der Hütte. Er holt sich seine aus einer Fahrradluft­pumpe gefertigte Wasserpfeife, zündet sie an und in­haliert hastig.

Sung Anh war zwei Jahre alt, als der Vater ins KZ kam. Beim Wiedersehen war er über dreißig. Er ist daran zerbrochen, daß er sich dem Willen des Vaters gebeugt hat und aufs Land gezogen ist. Die Feldarbeit geht ihm schwer von der Hand. Sein Augenleiden hat sich über die Jahre verschlimmert. Erst lief ihm die Frau weg, dann die älteste Toch­ter. Seine drei Söhne schickte er zur Ausbildung nach Nha Trang; ei­ner wurde Kraft­fahrer, der andere lernt Schuster, der jüngste, Sáu, hat gerade die Schule be­endet. Zuletzt heiratete die jüngste Tochter und zog zu ihrem Mann ins Nachbardorf. Sung Anh blieb allein in seiner Hütte zurück.

 

Es kommt selten vor, daß die Kinder ihn besuchen. Sáu geht seinem Vater aus dem Weg, macht sich an den Gemüsebeeten nützlich. Die beiden anderen Söhne stehen wortkarg herum. Später taucht Sung Anhs jüngste Tochter mit ihrem Kind auf. Wenigstens wohnt die achtjährige Enkelin zeitweilig bei ihm. Das Mädchen holt Wasser, füttert die Tiere und hilft ihrem Großvater beim Kochen.

Wir setzen uns zu Sung Anh, der die Wasserpfeife beiseite stellt und uns durch seine starken Brillengläser anblinzelt. Die Pupillen sind unnatürlich geweitet.

Hatte Huongs Vater nicht behauptet, die Mutter trüge die Schuld an dem Augenleiden?

Der blinde Bruder schüttelt den Kopf. Es stimme zwar, daß er wegen seiner Seh­schwäche nicht zur Armee eingezogen wurde. Aber kurzsichtig sei er schon seit seiner Geburt. Es wird immer schlechter, klagt er. Manchmal erkenne ich nicht mal meine Kinder!

Huong hat veranlaßt, daß sein Halbbruder kürzlich in Hanoi einem Spezialisten vorgestellt wurde. Doch als er sich nach dem Ergebnis der Untersuchung erkundigt, winkt Sung Anh ab. Die vietnamesischen Ärzte würden bloß ab­kassieren.

Aber die extreme Kurzsichtigkeit, läßt Huong nicht locker, muß doch Ursachen haben.

Sung Anh wartet noch immer auf den Befund. Vielleicht wollen die Ärzte nochmals Geld von ihm sehen.

Ich kann nicht mehr, stöhnt der blinde Bruder. Ich sehe nur noch Schatten! 

 

Der Unglückliche haust ohne Wasser, Strom und Licht. Seine Hütte ist nicht nur baufällig, sondern auch die einzige im Dorf, die noch nicht ans Energienetz ange­schlossen wurde. Spontan ent­wickelt Huong den Plan, für Sung Anh ein neues Domizil zu er­richten. Ein schönes, komfortables Holzhaus, wie es ein paar Dut­zend Schritte entfernt auf dem Nachbargrundstück steht. Tanni ist von der Idee begeistert.

Was ist, schauen wir es uns an?

Wir müssen auf die Begleitung Sung Anhs verzichten, der sich vor den Nachbarn schämt. Das trockene, luftige Bretterhaus ist mit leuch­tend roten Dachziegeln gedeckt, hat einen sauberen Zementfußboden und duftet nach frisch gesägtem Holz. Es wird von einem jun­gen Ehepaar mit sei­nem zweijährigen Sohn und einem Schäferhund bewohnt. Der Hund hebt, als wir eintreten, vor Schläfrigkeit nicht einmal den Kopf. Dafür bekommt der Junge bei meinem Anblick einen Schrei­krampf. Of­fenbar hat er noch nie eine Langnase gesehen. Huongs Nichten lachen und nehmen, als seien sie hier ständig zu Gast, sofort die Hängematte in Beschlag.

Rund vierhundert Dollar, schätzt die Nachbarin. Reine Materi­alkosten. Beim Aufstellen könne ja die Familie mit an­packen.

Ein Häuschen für siebenhundert Mark! Huong kann es kaum fassen. Er läßt sich alle Details erklären und jeden Kostenpunkt erläutern. Hinter ihm schaukeln die Mädchen so heftig, daß die Dachbalken zittern.

 

Beim Mittagessen in Sung Anhs Bretterbude ruht der Plan. Wir sitzen auf dem nackten Sandboden, die Hühnerkno­chen werden an die Seite ge­spuckt. Im Nu bilden sich Ameisenstraßen. Der Wind wirbelt Staub durch alle Ritzen. Abwechselnd stecken zwei Hunde ihre Schnauzen durch die einander gegenüberliegenden Türöffnungen. Ein Küken rennt über die als Tischdecke ausgebreiteten Reissäcke und wird hinausge­scheucht. Weil der Platz am Boden nicht aus­reicht, sitzen die Kin­der und die jungen Frauen während der Mahlzeit auf dem flachen, aus Holzkisten gezimmerten Schrank.

Wie die Hühner auf der Stange!

Gekicher, als Huong meine Bemerkung übersetzt. Darauf Bich, die Ameri­kanerin: Drei von uns sind schon vom Hahn getreten, eine wartet noch dar­auf. 

Die Verheirateten lachen schallend. Ly bekommt einen roten Kopf.

 

Während der Vater im Schatten des selbst gepflanzten Mangobaumes sein Mittagsschläfchen hält, suchen wir nach Abkühlung. Die Enkeltochter des blinden Bruders kennt eine Badestelle im Fluß.

Wir folgen der Kleinen durchs Dorf. Hier gibt es weder Mauern noch Zäune, dafür blühende Kakteenhecken, und die winzigen Hütten und Häuser sind zusätzlich durch Bäume und Büsche voneinander abge­schirmt. Eine Lebensmittelbude lockt mit meterhoher Coca-Cola-Reklame. Auf der Bank davor schläft eine Katze ohne Schwanz. Zwei Männer kommen uns im Gänsemarsch entgegen, über der Schulter eine Stange, an der die Beute baumelt: ein halbes Dutzend erlegter Bambusrat­ten.

Am Dorfende weichen die Bäume zurück und geben den Blick auf winzige, schachbrettartig angelegte Reisfelder frei. Dahinter wächst das Zuckerrohr.

Als wir uns dem Fluß nähern, schreit Huong plötzlich auf, als hätte ihn eine Schlange gebissen.

Zum Glück haben seine nackten Fußsohlen nur den glü­hend heißen Sand berührt.

Der Fluß hat an einer Windung zwischen Felssteinen und Weidenbüschen eine flache, etwa zwanzig Meter breite Mulde ausgespült. Kaum tummeln wir uns im klaren, kalten Naß, stoßen überraschend die Frauen hinzu. Dinh, Bich und Ly geben sich, ohne ihre Kleidung abzulegen, der seichten Strömung hin. Die aufgeplusterten Blusen treiben wie große bunte Blumen auf dem Wasser und kleben beim Hinausgehen durchsichtig am Körper.

 

Nach dem Bade versammeln sich die Erwachsenen in Sung Anhs Garten. Der Familienrat tagt. Ich wundere mich, warum die im Halbkreis um den Liegestuhl des Vaters angeordneten Hocker auf die Seite gekippt werden. Damit kein Familienmitglied das Ober­haupt überragt.

Der Vater eröffnet die Runde, der alle anwesenden Halbge­schwister Huongs sowie die beiden ältesten Söhne des blinden Bruders an­gehören. Danach spricht Huong.

Er sehe mit Bestürzung, wie der Bruder hier mit seiner Enkeltochter hause. Die Hütte sei alt und nicht mehr wetterfest. Außerdem fehlten der Fußboden, die Fenster un­d es gebe nicht mal Strom. Deshalb hätte er, Huong, sich entschlossen, den Bau ei­nes neuen Holzhauses für den Bruder zu finanzieren.

Sung Anh fällt ihm erregt ins Wort. Es wäre ver­gebliche Mühe, er sei zu nichts mehr nütze. Zumal ihn die Frau im Stich gelassen habe und die Söhne sich nicht um ihren Vater küm­merten...

Dein Bruder Huong hat einen großzügigen Vorschlag gemacht, und du flüchtest dich in Selbstmitleid, wird Sung Anh vom Vater zurechtgewiesen. 

Sung Anh verlangt nach seiner Wasserpfeife und setzt sie umständlich in Gang. Nein, murmelt er und bläst nervös den Rauch durch die Nase.

Aber Huongs Plan wird vom Vater gutgeheißen und von Gai unterstützt. Alle Famili­enmitglieder versprechen, beim Hausbau mit zuzupacken.

Niemals, bleibt Sung Anh starrköpfig, niemals könne er dieses Geschenk annehmen.

Der Familienrat geht ohne endgültige Entscheidung auseinander, doch der Vater zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden.

 

Ich erkundige mich bei Huong, was ein Stromanschluß für das neue Holzhaus kostet.

Etwa 700000 Dong oder umgerechnet siebzig Dollar.

Ich würde, schlage ich vor, gern die Kosten für den Hausanschluß übernehmen.

Prima. Dann werde ich noch ein­mal mit mei­nem Halbbruder re­den.

Zum Abschied schenkt Huong dem überrumpelten Sung Anh zwei neue Oberhemden. Er würde, besagt die Geste, sein letztes Hemd für ihn hergeben. Der Beschenkte wendet sich schluchzend ab.

Mein Vater möchte gern seinen Fehler wieder gutmachen. Ich sehe doch, wie er mit Sung Anh leidet, erklärt mir Huong auf dem Rückweg zum Bus. Die Wei­gerung des blinden Bruders, das neue Holzhaus zu akzeptie­ren, sei nichts anderes als eine Form späten Protestes. Ich fürchte, ich muß wegen der ausstehenden Befunde auch noch mal mit den Ärzten reden.

Glaubst du, daß Dinh mit Sung Anh in das neue Haus einziehen wird? frage ich.

Dinh? Nein. Aber man muß doch wenigstens meinem Bruder hel­fen.

Ein paar Jahre nach unserem Besuch steht das neue Haus für den Bruder.
Ein paar Jahre nach unserem Besuch steht das neue Haus für den Bruder.

 

 

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