(aus: Begegnung mit einer Prinzessin)
Du mußt den Hörer anders herum halten, Mutter!
Abends hören wir Mutter die Treppe zum Wohnzimmer im Dachgeschoss heraufkeuchen. Sie zieht sich, Stufe um Stufe, mühsam am Geländer hoch und bleibt nach ihrem Eintreten noch eine Weile an der Tür stehen. Sobald sich ihr rasselnder Atem beruhigt hat, setzt sie sich, den linken Arm auf die Tischplatte gestützt, auf ihren Platz im spitzen Winkel zum Fernseher und guckt in ferne, fremde Länder. Ihr Leben lang ist sie kaum über die Grenzen des Landkreises Bitterfeld hinausgekommen. Sie hat große Mühe, die Lautsprecherstimmen zu verstehen. Irgendwann gibt sie es auf, bleibt aber sitzen und schaut stumm auf die wechselnden, lebendigen Bilder.
Fernsehen und Telefon waren Mutter nicht geheuer. Doch im Gegensatz zum Kochen mit Propangas, wovor sie eine Heidenangst hatte, gewöhnte sie sich ans Telefonieren.
Beim ersten Mal hielt sie den Hörer falsch herum.
Du musst da reinsprechen, Mutter!
Mutter wirkte am Telefon gehemmt und sprach sehr leise, und wenn sie in die Leitung lauschte, kniff sie vor Anstrengung die Augen zusammen.
Das Fernsprechen funktionierte nach dem Prinzip des Rundfunkempfängers auf dem Küchenschrank, wie genau, das konnte sowieso niemand erklären. Von ihrem Fenster aus hatte Mutter zugeschaut, wie die Telegrafenleitung ins Dorf verlegt wurde; die Männer hatten Drähte von Mast zu Mast und über die Straße bis an die Dachfirste einiger Häuser gespannt, sehr zum Vergnügen der Schwalben und Spatzen. M. war nun mit der Welt verbunden, doch nur eine Handvoll Leute genoss das Privileg, angerufen zu werden. Die Postfrau, der Bürgermeister, der Pfarrer, der Schuldirektor, die Gemeindeschwester und der Kommandierende der Freiwilligen Feuerwehr gehörten dazu. Auch die beiden Gastwirte, der Konsumleiter und Familie Zunder, die den kleinen Lebensmittelladen auf der anderen Straßenseite betrieb, waren mit einem eigenen Telefonanschluss bedacht worden.
Zunders hatten nichts dagegen, dass meine Großeltern zu ihnen kamen, wenn sie mal bei uns anrufen wollten. Anders herum war die Sache komplizierter.
Zunächst schrieb mein Vater einen Brief, in dem er Tag und Uhrzeit des Ferngesprächs ankündigte. In dringlichen Fällen schickte er ein Telegramm. Zum festgelegten Zeitpunkt, meistens jedoch schon eine Viertelstunde früher, standen die Großeltern bei Zunders im Hinterstübchen des Ladens vor dem schwarzen Apparat mit der Wählscheibe.
Ich erinnere mich, wie wir Mutter von Moskau aus telefonisch zum 85. Geburtstag gratulierten. An jenem 21. Dezember 1964 wartete sie mit bei Zunders, dass das Telefon klingelte.
Wir rufen jetzt die Mutter an, verkündete Vater.
Zuerst sprach er russisch, um ein Gespräch in die DDR anzumelden. Dann wurde er plötzlich nervös, weil er den Zettel mit der Telefonnummer nicht fand. Vater verlangte das Lebensmittelgeschäft Zunder in M., Kreis Bitterfeld, Bezirk Halle. Während das Fräulein vom Amt im Telefonbuch suchte, brach die Verbindung ab.
Beim zweiten Versuch meldete sich ein anderes Fräulein. Z-u-n-d-e-r, buchstabierte Vater und musste, weil die Verständigung schlecht war, alles mehrmals wiederholen. Doch, rief er ungehalten, den Ort gibt es! Er sei schließlich dort zur Welt gekommen.
Gleich darauf entschuldigte er sich, es könne natürlich auch sein, dass der Anschluss unter Bitterfeld eingetragen ist. Endlich wurde das Gespräch durchgestellt, doch am anderen Ende der Leitung meldete sich nicht wie erwartet Frau Zunder, sondern ein Herr Zander aus Pouch.
Im dritten oder vierten Anlauf klappte es doch noch, und Vater hatte tatsächlich Verkaufsstellenleiterin Elli Zunder am Apparat. Obwohl er schon als Kind im Kolonialwarengeschäft Zunder eingekauft hatte und mit dem älteren der Zunderjungen zur Schule gegangen war, behielt er den förmlichen Ton bei. Er hätte gern mal seinen Vater gesprochen, wenn dies möglich wär.
Es war möglich, denn Großvater wartete seit mindestens einer halben Stunde ungeduldig neben Frau Zunder.
Nach kurzer Begrüßung und ausgiebigem Austausch über die Wetterlage wünschte Vater endlich, das Geburtstagskind zu sprechen. Er stand, mit dem Rücken zu uns, steif über den Apparat gebeugt, und seine Stimme wurde lauter, weil Mutter schwerhörig war.
Alles Gute zum Geburtstag, Mutter! schrie er. Wie geht’s?
Eine Weile lauschte er konzentriert und fragte dann: Was gab’s denn heute zu Mittag? Speckkuchen? Na, das hast du dir doch gewünscht …!
Mein Bruder und ich begannen nervös mit den Füßen auf den Dielen zu scharren, bis sich Vater zu uns herumdrehte und die Hand hob.
Warte mal, Mutter, deine Urenkel wollen noch mit dir sprechen …
Alle familiären Fragen waren abgehandelt, uns blieb nur, von unseren schulischen Aktivitäten zu berichten. Er sei jetzt Wandzeitungsredakteur und arbeite im Astronomiezirkel mit, krächzte mein Bruder. Lauter, wurde er von Vater ermahnt, sprich lauter, Junge! Mein Bruder verstummte und reichte den Hörer an mich weiter. Ich presste die Muschel ans Ohr und wusste vor Aufregung nicht mehr, was ich hatte sagen sollen. Hallo! brüllte ich. Hallo, Mutter! Ist der Speckkuchen schon alle?