(Aus: „Auf der Suche nach Wang Wei“)
Professor Hua lädt zum Essen in die Mensa
Wir sehen ihn schon von weitem. Der ehemalige Leiter der Deutsch-Abteilung an der Nanjing-Universität schaut nach ankommenden Taxis aus, während wir uns ihm von hinten, von unseren einstigen Unterkünften, nähern.
„Ni hao“, sage ich, und Professor Hua schnellt herum.
„Wo waren Sie so lange? Wir haben schon voriges Jahr auf Sie gewartet.“
Die Begrüßung lässt keine Verlegenheit aufkommen. Es ist, als hätten wir uns gestern und nicht vor 25 Jahren das letzte Mal gesehen.
Der kleine, schlanke Mann mit den lustigen Augen hinter der silbernen Brille begrüßt nun auch seine ehemalige Studentin. Er hat sich kaum verändert. Das kurz geschnittene, volle Haar ist noch immer pechschwarz, nur die Bartstoppeln glänzen ein bisschen silbrig.
„Wissen Sie: Deutsch lernen hält jung. Ich lese jeden Tag – deutsche Bücher und Zeitschriften“, verrät mein Ex-Chef mit stolzem Lächeln. Man sieht ihm seine 76 Jahre wirklich nicht an. „Und Sie sehen immer noch aus wie auf dem Foto, das Sie mit Ihrer Frau und Ihrem Sohn zeigt.“
Erst jetzt bemerkt er mein Nanda-Abzeichen. „Schön, dass Sie das aufgehoben haben.“
Wir gehen unter dem Torbogen hindurch auf den Campus. Prächtige Platanen und asiatische Kiefern säumen den Weg.
Das Auge trinkt vom satten Grün“, wie ein alter chinesischer Dichter sagt.
„1957 habe ich hier begonnen, die deutsche Sprache zu studieren. Und ich studiere sie heute noch – seit fast 60 Jahren.“ Das seien schöne, aber auch bittere Jahre gewesen, beteuert der Professor. „Die Kulturrevolution habe ich hier erlebt. Und die Politik der Öffnung. Glauben Sie mir, so gut wie heute ist es uns noch nie gegangen. Wir haben heute alles, und wir können reisen.“
Er lässt den Blick über die ehrwürdigen, von Efeu umrankten Lehrgebäude schweifen, versinkt kurz in Nachdenken und besinnt sich.
„Ach, ich habe doch eine Überraschung für Sie.“
Herr Hua hält einen durchsichtigen Plastikbeutel in der Hand, in dem eine blaue Jacke und ein gelber A4-Umschlag stecken. Er fischt mit den Fingern den Umschlag heraus, der ein Buch enthält: mein Erstlingswerk „Holunder aus dem Dach“. Den Erzählungsband hatte ich ihm im Dezember 1989 geschenkt – „mit herzlichen Wünschen zum Weihnachtsfest“.
„Ich habe das Buch noch einmal gelesen. Sehr interessant. Darin sind Ihre Wurzeln – Geschichten über die Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern…“
„Stopp“, rufe ich. „So weit kann auch ich nicht zurückschauen.“
„Was ist Holunder?“ fragt Xingguo.
Herr Hua erklärt es ihr auf Chinesisch. „Auch wir haben Wurzeln. Fragen Sie Shi Xingguo. Ihr Vater und ich, wir sind eine Generation. Wir waren beide ein Leben lang Hochschullehrer und haben uns erst vor kurzem auf einer Konferenz kennengelernt.“
Dort erzählte Xingguos Vater, dass seine jüngere Tochter bis 1994 in Nanjing Germanistik studiert hat. Herr Hua konnte sich noch an die große, schlanke Studentin mit den langen Zöpfen erinnern. Seitdem telefonieren die beiden miteinander. „Das ist kein Zufall“, schwört Herr Hua mit schelmischer Miene, „das ist Gott. Gott gibt es überall, egal ob Christ, Buddhist oder Moslem.“
Dann will er wissen, wo ich Xingguo unterrichtet habe.
Ich habe es vergessen, doch meine Studentin weiß es noch.
Das flache Gebäude mit den grauen Klinkersteinen und seinem traditionellen Ziegeldach gehört jetzt zu einer anderen Fakultät. Wir probieren verschiedene Türen, bis sich eine öffnen lässt. Dahinter ein Vorlesungsraum mit Podium, Tafel, Kreide und hölzernen Klappstuhlreihen, unverändert, wie eingefroren in der Zeit. Nein, nicht ganz, denn unter der Decke hängt ein Beamer. Xingguo setzt sich wortlos in die dritte Reihe, während der ehemalige Abteilungsleiter und Grammatik-Spezialist schnurstracks hinters Pult tritt und zu rezitieren beginnt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Dass ich so traurig bin…“
Die Melancholie von Heines „Loreley“ begleitet ihn auf unserem weiteren Weg. „Ich bin sehr gern hier. Der alte Campus schenkt mir viel Ruhe. Hier kann ich mich ungestört erinnern.“ Wir verharren vor der ehemaligen Deutsch-Abteilung, in die man nur noch mit Chipkarte kommt. Herr Hua hat keinen Zugang mehr. Stattdessen zeigt er uns den Kindergarten, in dem unser Sohn die braven chinesischen Sprösslinge gegen ihre Erzieherinnen aufwiegelte. Und ich frage ihn, ob das Haus des berühmten Professor Zhang, eines der Nestoren der chinesischen Germanistik, noch steht.
„Nein“, erwidert Herr Hua, „Zhang Weilian ist gestorben. Er wurde 102 Jahre alt. Seinen 100. Geburtstag haben wir mit einer wissenschaftlichen Konferenz gefeiert.“
Kurz nach dem Ableben des Professors wurde auch sein Häuschen abgerissen, das noch statt einer Klingel eine Glocke mit Seilzug hatte. Dort erhebt sich jetzt ein klobiger Neubau.
Herr Hua bekommt feuchte Augen. „Wissen Sie, Herr Ye und Herr Zhang waren meine Lehrer. Bei ihnen habe ich das Abc gelernt: ,Anna kommt nach Moskau. Kommt Oskar auch? Nein, Oskar kommt nicht nach Moskau…‘ Das waren meine ersten deutschen Sätze. 1957 hatten wir noch keine eigenen Lehrbücher. Wir bekamen alle Unterrichtsmaterialien aus der Sowjetunion.“
Ich erzähle Herrn Hua und Xingguo von meinem letzten Besuch bei Professor Zhang. Er war damals nach dem Mondkalender 89, nach unserem Kalender 90 Jahre alt und nicht gewillt, sich zur Ruhe zu setzen. Sein Gehör hatte zwar nachgelassen, doch seine Augen, die ganze Gebirge chinesischer und deutscher Dichtung studiert hatten, bedurften keiner Brille. Herr Zhang war für seine Publikations- und Übersetzertätigkeit mit der Goethe-Medaille der DDR und dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden. Nach den Ereignissen während der „Kulturrevolution“ befragt, schilderte er mir, wie die Rotgardisten sein Haus auf den Kopf gestellt hatten. Sie schleppten alles fort, was bürgerlich, alt und von kulturgeschichtlichem Wert war: Bücher und Noten vor allem, aber auch Tuschzeichnungen, Kalligraphien, Buddhafiguren, Vasen, Rollbilder, kunstvoll bemalte Fächer, Silbermünzen und sogar seine Briefmarkensammlung. Zhang war mit 55 bereits einer der verdienstvollsten Germanisten Chinas. Zusammen mit den Kollegen und seinen Studenten wurde er zu schwerer Feldarbeit aufs Land geschickt. Auch am Bau der Yangtse-Brücke war er beteiligt. Aber nicht alle hätten so viel Glück gehabt, wie er, erklärte er. Ein Dozent, der anfangs zu den Roten Garden gehörte, sei später als Konterrevolutionär verfemt worden und habe sich im dritten Stock aus dem Fenster gestürzt.
„Eine schlimme, verrückte Zeit“, bestätigt Herr Hua. „Ich habe sie miterlebt, hier, auf dem Campus. Herr Zhang war mein Lehrer. Ein Mann mit großen Verdiensten. Zusammen mit meiner Kollegin Kong Deming habe ich die Festschrift zu seinem 100. Geburtstag herausgegeben.“
Er seufzt und versinkt wieder in Nachdenken. Ich warte, doch weiter kommt nichts.
Es ist nach zwölf, und ich will meinen ehemaligen Abteilungsleiter zum Mittagessen einladen, aber er schüttelt den Kopf. Auf seine unwiderstehliche Art dirigiert er uns zur Mensa. „Sie müssen unbedingt das Studentenessen probieren, das ist sehr gut und sehr billig. Ich habe einen Ausweis, damit kostet die Portion nur einen Euro.“
In der neuen Mensa essen die Lehrkräfte und Studenten gemeinsam. Alles ist hell und sauber. Herr Hua und Xingguo nehmen je ein orangefarbenes Tablett vom Stapel und spazieren damit zur Theke. „Was wollen Sie essen? Jiaozi, Nudelsuppe oder Reis mit Gemüse und Fleisch?“ Ich starre auf die hübsch präsentierte Auswahl, die jedem deutschen China-Restaurant zur Ehre gereicht hätte, und kann mich nicht entscheiden.
„Lassen Sie nur. Setzen Sie sich. Wir machen das schon!“ ruft Herr Hua.
Nach einer Weile kommen beide mit voll beladenen Tabletts und verteilen drei Portionen Teigtaschen und mehrere mit Fleisch, Gemüse und Tofu gefüllte Schüsseln auf dem Tisch. Herr Hua gießt Sojasoße in kleine Schälchen. Xingguo läuft noch einmal los, um Wasserflaschen zu besorgen.
Als auch das Wasser auf dem Tisch steht, schaut der Professor glücklich auf das Arrangement und sagt: „Raten Sie mal, was das kostet? Zehn Euro? Neun? Acht? - Nein, fünf Euro!“
Herr Hua fährt auch kostenlos mit allen örtlichen Verkehrsmitteln. Er lebt als Rentner im chinesischen Kommunismus.
Als ich ihn frage, ob er mir für einen Tag sein Fahrrad borgen würde, lehnt er kategorisch ab.
„Ich möchte noch einmal mit dem Fahrrad durch Nanjing fahren“, sage ich, „wie damals, als mein Sohn bei mir vorn auf dem Kindersitz saß.“
Der Professor schüttelt energisch den Kopf. „Das Fahrrad steht im Keller. Es ist verrostet.“
„Dann werde ich es wieder aufmöbeln.“
„Nein, das geht nicht. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr mit dem Rad gefahren. Glauben Sie mir, das ist viel zu gefährlich, bei diesem verrückten Verkehr.“
Herr Hua schaut Xingguo an. „Wieso nimmt er nicht die Metro? Wieso will er unbedingt mit dem Fahrrad fahren? Das ist doch Selbstmord zwischen all den Bussen und Autos.“
„Herr Hua, bitte machen Sie sich keine Sorgen“, sagt Xingguo und lacht.
„Nein. Das geht nicht. Das kann ich nicht verantworten.“
Bevor wir uns trennen, ziehe ich mein Gastgeschenk aus dem Rucksack: ein Exemplar meines gedruckten China-Tagebuchs von 1990.
Herr Hua liest den Titel laut vor: „Frühling in Nanjing“. Und schaut mich an. In seinem Gesicht spiegeln sich Neugier und Verwirrung.
„Ach, das haben Sie geschrieben? Über Ihre Zeit an der Nanjing-Universität?“
„Ja“, sage ich, „das sind meine chinesischen Wurzeln.“